ANEMONA CRISAN


TEXTE

Raumkörper und Körperräume

Conny Cossa (in ANEMONA CRISAN, Die Anatomie des Raums / The Anatomy of Space, Conny Cossa (Hg.), Kerber Verlag, Berlin 2014, S. 6-10.)

Auf den ersten Blick scheinen poetisches Gleichgewicht und ästhetische Eleganz die Essenz der Arbeiten Anemona Crisans zu bilden. Doch unter der perfekten Oberfläche ihrer technisch virtuosen Zeichnungen, Gemälde und immersiven Raumarbeiten pulsiert in beinahe explosiver Zeitlupe ein dynamisch existentieller Konflikt von Körper und Raum.

In diesen zwischen Figurativem und Abstraktem oszillierenden Bildwelten verhandelt die Künstlerin Fragen der Identitätsfindung, den Kampf des Individuums gegen ein System, das zwar von ihm selbst definiert wird, aber doch einschnürt und beengt. Ihre oft androgynen, stereotypen Figuren sind von plastischen Strukturen bedeckt, durchdrungen, umwoben – bedroht und ge-schützt zugleich. Wie das gesellschaftliche System, das uns prägt und ebenso von uns geprägt wird, das gleichzeitig Zuhause und Kampffeld ist, sind diese Strukturen ambivalent. Sie sind wie ein sichtbar gewor-denes Netz zwischenmenschlicher Beziehungen, wie ein Hin und Her leidenschaftlicher Liebe und kühler Kontrolle: von uns gesponnen und ersonnen und doch von einer über uns hinausreichenden Komplexität. Ihre konkrete Bedeutung bleibt jedoch offen: Stehen sie für gesellschaftliche, politische, religiöse oder emotionale Einflussnahmen? Sind es Einwirkungen von außen oder Teile des Körpers selbst? Sind es Fesseln, Fasern, Hüllen oder doch Adern, Venen, Nervenbahnen?

Bereits in ihren frühen Arbeiten stellt Anemona Crisan das Verhältnis zwischen Körper und Raum, zwischen Individuum und Gesellschaft, in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Dieses Verhältnis erschöpft sich jedoch nicht, wie etwa in Marcel Duchamps ikonischem
Nu descendant un escalier no. 2, in der Darstellung der Bewegung des Körpers im Raum – vielmehr stellt sie immer wieder den Raum an sich zur Diskussion, lotet seine Grenzen aus. Obwohl es in ihren Arbeiten selten Hinweise auf konkrete Raumkoordinaten gibt, ist der Raum doch immer präsent, sei es als Bildraum in ihren Zeichnungen und Gemälden oder als Körperraum in ihren Raumarbeiten.

Der Körper ist für sie nicht bloß, menschlichen Seh- und Bewegungsgewohnheiten entsprechend, vertikales Element, sondern verschmilzt mit dem Raum zu einem plastischen Ganzen. Er ist nicht nur Leib – also persönlicher, individueller Körper – sondern immer auch generischer Körper, sozialer Körper. Ähnlich einer russischen Matrjoschka-Puppe wird der Körper selbst zum Raum, der Raum zum Körper. Diese Grenze zwischen Körperraum und Raumkörper, die Dialektik zwischen Innen und Außen, wird zur bestimmenden Konstante. Durch subtile, kalkulierte Täuschungen versucht Anemona Crisan unser trainiertes sinnliches System, das danach strebt die umgebenden Reize zu verknüpfen und eine Ordnung herzustellen, zu irritieren. Sie stellt die Raumhülle, die immer auch Körperhülle ist, in Frage. Sie versucht, den Horizont zu kippen und die Vertikale zu brechen, versucht, die Enge und Weite des Raums erfahrbar zu machen, die Schwere zu überwinden, die Wahrnehmungsgewohnheiten und das Leibgefühl in Verlegenheit zu bringen. Es kommt zu einer Rückkoppelung zwischen Körper und Raum, zwischen Innen und Außen – einer Rückkoppelung, die man auch, mit den Worten von Maurice Merleau-Ponty, als „Eingelassensein und Verflochtensein“ bezeichnen kann:

„[Der Leib] ist nicht einfach de facto gesehenes Ding (ich sehe nicht mit meinem Rücken), er ist de jure sichtbar, er unterliegt einer Sicht, die unausweichlich und zugleich aufgeschoben ist. Umgekehrt: wenn er berührt und sieht, so liegen die sichtbaren Dinge nicht als sichtbare Objekte vor ihm: sie sind um ihn herum, sie dringen sogar in seine Umfriedung ein, sie sind in ihm, sie tapezieren von außen und von innen seine Blicke und seine Hände. Er kann sie nur deshalb berühren und
sehen, weil er – verwandt mit ihnen und als solcher selbst sichtbar und berührbar – sein eigenes Sein als Mittel benutzt, um an ihrem Sein teilzunehmen [...] Mein Leib als sichtbares Ding ist im großen Schauspiel mit enthalten. Aber mein sehender Leib unterhält diesen
sichtbaren Leib und mit diesem alles Sichtbare. Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere.“
(1)

Anemona Crisan geht es also nicht nur um den Raum an sich, nicht um die Gestaltung von Kubik- oder Quadratmetern, ebensowenig thematisiert sie den Körper als isoliertes Objekt im Raum – ihre Raum-arbeiten sind vielmehr eine Etüde des Körperlichen, der Raum selbst wird zum immersiven Körper. Diese Körperbezogenheit, das „Eingelassensein und Verfloch-tensein“, wird in all ihren Arbeiten spürbar – sei es in ihren grazilen Zeichnungen, Gemälden oder ihren Raumarbeiten. Ihr Ansatz ist gewissermaßen immer ein anatomischer – Anatomie jedoch nicht im medizinisch-biologischen Sinne, aber durchaus im buchstäblichen: Der Begriff Anatomie stammt vom griechischen ἀνά ,auf‘ und τομή ,Schnitt‘, und es ist gerade das künstlerische Sezieren, das ,Auf-schneiden‘ des Körpers – sei es das des individuellen Körpers, des Leibes, oder des sozialen, Gesellschaft oder Raum – dem Anemona Crisans Aufmerksamkeit gilt. Der Raum wird zur Exten-sion des Körpers, zur Prothese, und gleichzeitig wird der Körper zum Raum – mehr noch: zur anthropogenen Landschaft. Sie seziert den existenziellen, transzen-denten Körper des Menschlichen an sich. In ihrer Arbeit wird der Körper, in den Worten Hermann Schmitz’, als
„absoluter Ort“ erfahrbar.

Anemona Crisans Werk setzt Kontrapunkte zum körper-losen White Cube, sie bringt den virtuellen Bildraum in Bezug zum Ausstellungsraum. Bereits früh experimentiert sie mit diesem für ihr künstlerisches Schaffen so bedeutenden ,Zwischenraum‘, etwa in ihrer Installation
en passant ... in der Wiener Spittelberg-Passage aus dem Jahr 2009. Im Zentrum ihrer ersten Raum-
arbeiten, beispielsweise bei
Who is afraid of red? aus dem Jahr 2010 oder ihrer Diplomarbeit Zwang-Los an der Wiener Akademie der bildenden Künste im Jahr 2011, steht das klassische
Medium des Tafelbildes, die Leinwand. Doch sie gibt sich nicht mit der ihr zur Verfügung stehenden Fläche zufrieden: Die Arbeit geht über den Rahmen hinaus, ergreift den Raum. Standen die Betrachtenden tradi-tionellerweise vor dem Bild, stehen sie jetzt mittendrin. Das pulsierende Blut ihrer Adern und die feinen Trajektorien Anemona Crisans verschmelzen zu einem Körper. Das Bild greift in den Raum, der Raum greift in das Bild. Die Betrachtenden werden durch die Verschiebung der Brennweite Teil der Arbeit, die Künstlerin zum Mikroskop, der Raum zum Körperraum-Raumkörper.

Die Künstlerin bricht hier mit dem Dogma der Hängung ,auf Augenhöhe‘, sie zwingt die Betrachtenden, den Raum zu durchschreiten und durch Bewegung zu erfassen. Die Arbeit wird nicht mehr von der Raumhülle bestimmt, sondern verschleiert und verzerrt diese – über den ,faktischen‘ Raum legt die Künstlerin einen emotionalen, spielt mit Nähe und Distanz, mit Einengung und Auflösung. Meisenheimer thematisiert diese ambivalente Körpersituation:

„Der Innenraum als Hülle ist [...] keinesfalls eine
physikalische Hülle, ein Sack, der Dinge zusammenhält und mit Kubikmetern gemessen werden könnte.
Er ist vielmehr die potentielle Sphäre um mein Ich, die Bühne, die die Architektur dem Leib bereitet, nicht ein materielles, sondern ein szenisches Angebot [...]. Es gibt
ein vitales Interesse des Leibes an der Hülle, an der Haut, am Schutz seiner Sphäre. Es gibt aber auch das ebenso starke Interesse des Leibes, sich auszuweiten: sich in das Fremde hinein zu dehnen, die Hülle zu durchstoßen.“
(2)

In ihrer Raumarbeit
Über|Spannung, entstanden im Rahmen des Kunstpreises Roter Teppich für junge Kunst in Wien 2011, verzichtet Anemona Crisan auf die mediale Grenzüberschreitung Gemälde-Raum und konzentriert sich ganz auf das Thema Raumkörper-Körperraum. War in ihren bisherigen Raumarbeiten immer ein Tafelbild das Zentrum der Dynamik von Expansion und Kontraktion, gibt es nun eine erneute Verschiebung der Brennweite. Bild und Raum verschmelzen zu einem Erlebnisraum, dessen Fokus und Kontext der Körper ist. Die Künstlerin beschreibt dies treffend:

„Die Figur greift nach dem Raum, besetzt, verschiebt und kippt ihn. Sie verbindet durch die roten Raumlinien die Architektur mit dem eigenen Körper und assimiliert so den Umgebungsraum. Die Rauminstallation legt sich als virtueller Raum über den Realraum. Es gibt Punkte, an denen sich realer und konstruierter Raum überschneiden, an anderen Stellen wiederum geht der konstruierte Raum über den Realraum hinaus oder verläuft trompe-l'œil-haft gegen reale Raumparameter. Gleichzeitig ist die Installation betretbar, die Betrachtenden werden zu einem Teil der Arbeit und nehmen diese körperlich wahr.“ (3)


Die vollendete Beherrschung künstlerischer Technik ist für Anemona Crisan Mittel zum Zweck. Es ist im Grunde irrelevant, ob sie in einer Raumarbeit Tapes verwendet oder in wochenlanger Arbeit ihre Linien meisterhaft mit Pinsel über die Wände zieht, wie im Fall ihrer Installation
Raum-Verleibung in der Innsbrucker Galerie Andechshof 2012 oder ihrer Installation
Aufbruch ins Innere, in der Zachęta – National Gallery in Warschau 2014. Ihr Ansatz ist vielmehr psychologisch-analytischer Natur, ihr Werk ein Spagat zwischen Präzision und Geste, Kon-trolle und Eruption, Technik und Impuls.



1   Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, Claude Lefort (Hg.), München 1994, S. 181 f. 
2   Wolfgang Meisenheimer, Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, Köln 2004, S. 41.
3   Anemona Crisan im Gespräch mit Conny Cossa, Dezember 2013
.

Dieser Text ist im folgenden Katalog der Künstlerin abgedruckt, und kann hier erworben werden:

ANEMONA CRISAN
Die Anatomie des Raums / The Anatomy of Space


Die vorliegende Monografie zeichnet die Entwicklung der österreichisch-rumänischen Künstlerin Anemona Crisan vom Tafelbild zur raumgreifenden Installation nach. Sie zeigt Crisans eigenwillige Wahrnehmung der Beziehung von Körper und Raum: Ihre Zeichnungen expandieren in den Raum, nehmen ihn in Besitz und umfangen den Betrachter. In ihren Arbeiten auf Papier, Leinwand und in raumgreifenden Installationen bedient sie sich einer prägnanten Linienführung, die mit stilisierten anatomischen Elementen den Raum neu definiert.

Herausgeber: Conny Cossa
Mit Textbeiträgen von: Conny Cossa, Elisabeth Priedl and Jacek Malinowski

Kerber Verlag, Berlin, 2014
Hardcover, 30 x 24 cm, 112 Seiten
Sprachen: deutsch / englisch
ISBN: 978-3-86678-985-2


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