Vis-à-vis. Zum Raum hinter dem Raum
Fenster, Türen, Wände, Decken, Böden, Raumecken – allgemeine architektonische Gegebenheiten eines Raumes – sind fragmentarisch in Zeichnungen übernommen. Ortspezifische Gebrauchsgegenstände der Inneneinrichtung sind als Objekte installativ mit den Bildern verbunden.
Der so determinierte Bildraum wird von einer immer wieder auftauchenden stereotypen (Frauen)Figur besetzt und benützt: Sie versteckt sich unter vorgestellten Tischen, schläft darauf, liegt aufgebettet am Boden, schaut unter einem Fensterbrett hervor ...
Diese Zeichnungen verlassen ihre festgeschriebene Rolle als schlichte Wandbilder und fordern ihren Raumanteil ein, indem sie eine Öffnung in die Membran des realen Raumes reißen und so in eine andere sonst unsichtbare Ebene verweisen.
Es sind Bilder, die gleichzeitig als plastische Objekte konzipiert sind: Zeichnungen, die am Boden liegen oder frei im Raum stehen, wie das Diptychon einer durch die Wand gehenden Figur: Sie tritt, als Fragment eines Oberkörpers, auf der einen Seite der Bildwand
ein und dringt durch einen Spalt zur anderen Seite durch. Das Diptychon ist durch seine Positionierung im Raum als Objekt erfahrbar, das sich von der Wand gelöst hat und nun selbstständig im Raum steht.
Das Durchbrechen der Raumoberflächen – zum Raum hinter dem Raum – ist die Handlungsanweisung für die lebensgroße Protagonistin, die in unterschiedlichen Situationen und Rollen in allen Zeichnungen auftaucht. In ihrer Bewegung von einer Raumseite zur anderen ist Sie immer in einer Übergangsposition dargestellt, deren Richtung ambivalent ist: Tritt sie gerade in die Leinwand ein oder reißt sie sich gerade aus dem Bildraum heraus, um in den realen Raum einzutreten und so zu einem Individuum zu werden? Sie ist nie als ganze Figur erkennbar, nur einzelne ihrer Körperteile werden sichtbar, während der Rest in dekorative Stoffe eingewickelt und versteckt ist, die an einschnürende Fangnetze erinnern und die Figur zugleich schützend bedecken.
Diese Akteurin bleibt immer anonym, entzieht sich einer Identifizierung durch die BetrachterInnen, indem sie fast ausschließlich abgewandt oder in Rückenansicht gezeigt wird. Formal erscheint sie durch ihre steifen Positionen eher unbelebt, wie eine Humanoide aus Science-Fiction-Filmen in einer symbolischen Geste erstarrt. Ihr Geschlecht ist erahnbar: Langes Haar, Brüste und Kleidung deuten auf die Darstellung einer weiblichen Figur hin. Zugleich widerspricht der athletische Körperbau dieser Annahme. Es ist eine androgyne Figur, die sich einer eindeutigen Identifizierung entzieht und als Stereotyp auf jeden Menschen verweist.
Der Bildraum ist zugleich auch ein psychologischer Raum, in dem diese entpersonifizierte Protagonistin um einen Platz, um eine Identität ringt. Durch ihre Darstellung in Lebensgröße wird sie zu einem virtuellen Gegenüber, einem Vis-à-vis und bevölkert ihren Bildraum wie reale BesucherInnen den Ausstellungsraum.
Das Thema des Überwindens einer Dichotomie setzt sich über die Problematik Realraum versus Bildraum, Stereotyp versus Individuum, belebt versus unbelebt, Bedrohung versus Schutz fort und kommt in der technischen Herangehensweise an die Zeichnung wieder zum Vorschein. Auch hier bestimmt die Verbindung zweier Gegenpole das Bild: Zeichnung und Malerei. Der Kontrast zwischen gezeichneten und gemalten Zonen löst sich durch die stufenweise Wahrnehmung der Bilder im Raum auf: Blickt man aus größerer Entfernung, sind zunächst die farbigen Stellen wahrnehmbar, nähert man sich den Bildern, werden nach und nach die zarten gezeichneten Zonen – meist ist dies die Figur – erkennbar. Auf diese Wiese wird die Bewegung der BetrachterInnen zu einem immanenten Element der Zeichnungen, die nur durch diese Bewegung vollständig erfahrbar sind. Die Bilder entstehen in einer Mischtechnik aus Bleistift und Acrylfarbe nach präzisen Vorskizzen. Leinwand dient dabei als Bildträger und wird aufwendig vorbehandelt, mehrmals grundiert und geschliffen, sodass sie in der Struktur einer groben Papierober- fläche entspricht. Das Grundieren ermöglicht erst das Auftragen der Bleistiftszeichnung und stellt den Hintergrund, den eigentlichen Bildraum her. Die Formate variieren von Großformaten bis zu Kleinformaten. Einzig die lebensgroße Darstellung der Figur ist allen Formaten gemein, seien dies in den Kleinformaten auch nur Fragmente, wie Finger, Stirn oder Haare.
Die Entscheidung die Zeichnung auf Leinwand und nicht unmittelbar auf die Wand aufzutragen, verstärkt sowohl den Bild-, als auch den Objektcharakter der Zeichnungen. Das Bild löst sich durch die weiße Leinwandoberfläche im Umraum auf. Zugleich hebt es sich durch den Rahmen von der Wand ab und erhält auf diese Weise eine eigene Plastizität.
Das Verbleiben der Zeichnung auf einem Bildträger erlaubt auch ihre Übertragung in einen anderen Raum. Auf diese Weise besetzen Bilder, die zunächst als ortspezifische Werke für eine Umgebung entstanden sind, neue Räume und entfalten hier eine andere Wirkung, indem sie ihre ursprüngliche Bedeutung und jene ihrer neuen Umgebung verändern.
Diese Übertragung findet auch im Rahmen dieses Katalogs statt: vom realen Raum zurück in den zweidimensionalen Raum der Seite: zum Raum hinter dem Raum.
Anemona Crisan